Von der Überzeugung, keine Entscheidung treffen zu können

Von der Überzeugung, keine Entscheidung treffen zu können
Treffen Sie gerne Entscheidungen? Sind Sie der Auffassung, dass Sie klar und schnell entscheiden können? Nicht lange fackeln? Nicht zweifeln? Ja? – Dann lesen Sie nicht mehr weiter. Denn für Entscheidungsprofis wie Sie ist dieser Beitrag nicht von Interesse. Schließlich gehören Sie zu jenen Menschen, die konsequent und schnell Entscheidungen fällen und damit zufrieden sind.
Wenn Sie jedoch zu jenen Menschen zählen, die den ein oder anderen der folgenden Sätze kennen, sollten Sie weiterlesen:
- „Ich kann mich gar nicht entscheiden!“
- „Ich grübele häufig tage-, wochen-, monatelang hin und her.“
- „Listen … Ich mache immer Listen: Pro und Contra. Und dann noch eine Liste …“
- „Ich brauche – gefühlt – Ewigkeiten, um zu einer Entscheidung zu gelangen.“
- „Wenn ich mich endlich entschieden habe, stelle ich diese schnell wieder in Frage.“
- „Vor einer Entscheidung schlafe ich schlecht.“
- „Wenn ich eine Entscheidung fällen muss, habe ich das Gefühl, dass ich wie gelähmt bin.“
- „Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich mich nicht besser entscheiden kann.“
Entscheiden – ein Waten durch dichten Nebel
Entscheidungen treffen – es kann sich anfühlen wie ein Meer, in das man springt und nicht sicher weiß, ob man darin schwimmen kann. Oder wie ein dichter Nebel, der einen umgibt und der noch nicht einmal eine Fahrt auf Sicht zulässt. Warum fällt es schwer, zu entscheiden? Stimmt der Satz überhaupt: „Ich kann mich nicht entscheiden!“? Oder: „Ich kann mich nie entscheiden!“
Eine sehr absolute Formulierung.
In meine Supervisionspraxis kommen Menschen, die damit hadern, dass sie sich (scheinbar) nicht entscheiden können. Es sind Führungskräfte, Selbständige, Teammitglieder. Diese Menschen kommen mit dem Anliegen, den „Nebel“, in dem sie sich befinden, zu lichten. Nicht selten besteht der (meist unausgesprochene) Wunsch, dass eine andere Person die Entscheidung übernimmt. Und dieser Wunsch wird als Hoffnung der Supervisorin angetragen: „Sagen Sie mir doch, wie ich mich entscheiden soll.“ Sie ahnen es schon: Das mache ich nicht.
Entscheiden – worum es in diesem Beitrag geht
Viele kluge Bücher sind geschrieben worden, wie Menschen entscheiden, was Entscheidungen beeinflusst, warum wir Entscheidungen vermeiden. Rein wissenschaftlich bewegen wir uns in der Psychologie, der Soziologie, der Philosophie, der Neurowissenschaften und auch – um es vollständig zu machen – der Medizin. Und in Studiengängen, in denen man es eventuell überraschend findet, taucht „Entscheidungslehre“ als Fach auf. Entscheidungen – sie werden beleuchtet unter dem Aspekt, wie Menschen sich entscheiden und warum. Entscheidungen – sie werden prozesshaft betrachtet. Entscheidungen – es wird gelehrt, wie man eine gute Entscheidung fällt und diese umsetzt.
In diesem Beitrag geht es um den Aspekt der „Schwere der Entscheidung“. Es geht darum aufzuzeigen, dass man diese gefühlte Schwere ein Stück weit leichter nehmen kann.
Warum fällt es vielen Menschen schwer, sich zu entscheiden? So schwer, dass sie irgendwann beschließen, nicht mehr allein in diesem Entscheidungsnebel herumzustochern und sich zu verirren, sondern sich einer Person anzuvertrauen, die ihnen hilft, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden? (Was übrigens eine Entscheidung ist und – aus meiner Sicht – eine kluge außerdem.)
Werfen wir zunächst mal einen Blick auf die Entscheidungen an sich.
Entscheiden im Autopilot-Modus
Wir treffen täglich eine Vielzahl von Entscheidungen. Entscheidungen durchziehen unser Leben: in der Liebe genauso wie beim Autokauf, vor Gericht und auch im Freundeskreis. Häufig ist es uns gar nicht bewusst, dass wir entscheiden. Es fällt nicht auf, weil wir in einer Art „Autopilot-Modus“ handeln. Meist sind es die kleinen, alltäglichen, scheinbar banalen Entscheidungen, die wir in diesem Modus treffen.
Wir entscheiden jeden Morgen aufzustehen, wenn der Wecker klingelt. Wir entscheiden, zu duschen und die Zähne zu putzen. Wir entscheiden, das Haus erst dann zu verlassen, wenn wir uns eine Hose und ein Hemd angezogen haben. Wir ergreifen die uns angebotene Hand zur Begrüßung. Wir treffen auch noch andere Entscheidungen:
- Am Morgen beim Bäcker: Mohnbrötchen oder Buttercroissant?
- Vor dem Verlassen des Hauses: Fahrrad oder Straßenbahn?
- Beim Mittagessen: Menü 1 oder das Vegetarische?
- Am Abend: Joggen oder Fernsehen?
Dennoch kann schon manch eine dieser banalen, kleinen Entscheidungen den einen oder die andere von uns vor ein Dilemma stellen. Bis man sich morgens entschieden hat, ob man das Fahrrad nimmt oder doch die Straßenbahn, kann es schon spät sein und die Konsequenz ist ein Tadel vom Vorgesetzten, weil man (mal wieder) zu spät kommt. Hat man sich endlich für das vegetarische Gericht entschieden, erhält man die ernüchternde Nachricht, dass es „aus“ ist. Wäre man doch mal schneller gewesen …
Die kleinen, scheinbar banalen Entscheidungen, die wir mehr oder weniger unbewusst treffen, sichern uns im Autopilot-Modus ein Minimum an Funktion in unserem Leben. Wir können sicher sein, dass unser Unterbewusstsein Signale sendet, die uns am Leben erhalten. Schließlich entscheiden wir jeden Tag, dass wir essen und trinken, uns bewegen, uns anziehen, etc. Wir haben also eine Art unbewussten Entscheider in uns. Den Autopiloten eben.
Daniel Kahnemann (1934 – 2024, US-amerikanischer-israelischer Psychologe und Hochschullehrer, Nobelpreisträger und Autor des Buches „Schnelles Denken, Langsames Denken“) bezeichnet diesen „Autopiloten“ als das „System 1“: Wir sind schnell in Entscheidungen, weil wir uns auf nicht bewusste Muster, Stereotype, Biases, Heuristiken und Vorurteile verlassen. Dieser Autopilot hilft uns, schnelle Entscheidungen zu fällen. Das System 1 ist – in der Regel – erstaunlich genau und sehr stabil.
Ich finde, es ist jetzt an der Zeit, den Satz: „Ich kann mich überhaupt nicht entscheiden.“ kurz anzuschauen. Finden Sie, dass im Lichte des inneren Autopiloten bei – zugegeben – eher alltäglichen und scheinbar banalen Entscheidungen dieser Satz noch eine Allgemeingültigkeit hat? Können Sie von sich jetzt noch behaupten, dass Sie sich „überhaupt nicht entscheiden können“?
Wenn der Autopilot-Modus ins Stottern kommt
Gehen wir einen Schritt weiter und wenden uns Entscheidungen zu, die nicht mehr banal und alltäglich sind, sondern schwerer wiegen. Unser Autopilot springt in solchen Fällen zwar auch an (wir können dies gar nicht vermeiden), doch wir übernehmen die „Empfehlungen des Autopiloten“ nicht sofort, sondern zögern. Wir überlegen ganz bewusst, wir wägen ab. Ein paar Beispiele:
- Beim Friseur: Haarfarbe ändern? Haare abschneiden? Oder doch wachsen lassen?
- Bei der Urlaubsplanung: Schiffsreise oder Abenteuerurlaub?
- Bei einem Fehlkauf: Umtauschen gehen oder doch lieber in der hintersten Ecke im Schrank vergraben?
- In den eigenen vier Wänden: Schlafzimmer rot streichen? Neue Küche kaufen? Möbel umstellen?
Hier öffnen wir die Kategorie der Entscheidungen, die so manch einen von uns nicht nur in ein kleines, sondern mittelgroßes Dilemma bringt. Warum? Weil die Konsequenz einer solchen Entscheidung eine andere ist als jene, ob ich ein Mohn- oder ein Sesambrötchen zum Frühstück esse. Einleuchtend. Wenn ich zum Friseur gehe und die langgehegte Haarpracht abschneiden lasse, muss ich mit der Konsequenz „Kurzhaarfrisur“ leben, auch wenn das Ergebnis alles andere als zufriedenstellend ist. Zwar gibt es in solch einem Fall die Möglichkeit, die Entscheidung zu ändern (‚Extensions‘ lautet das Zauberwort), eine (vollständige) Revision ist zwar möglich, jedoch mit Aufwand verbunden (z.B. im Falle der Haarpracht mit mehreren Jahren des Wartens und Züchtens verbunden). Deshalb will die Entscheidung gut erwogen sein.
Entscheidungen sind körperlich spürbar
„Gut erwogen“ ist aber etwas anderes als „zaudern, zögern, hin- und hergerissen sein“. Aber genau das empfinden viele. Und entscheiden sich nicht. Oder sie meinen, dass sie sich nicht entscheiden.
Wenn es doch zu einer Entscheidung kommt, ist sie manchmal „mit Bauchschmerzen“ verbunden oder „schweren Herzens“ getroffen. Gefühle, die meine Kund*innen häufig beschreiben. Und die ich auch kenne.
Sicherlich haben Sie so etwas auch schon an sich festgestellt. Sie treffen eine Entscheidung, irgendwie, mal „mit Bauchweh“, mal „mit Herz“ oder „ballen die Faust in der Tasche“. Irgendwie scheinen Entscheidungen, die wir treffen (und die wir im Verstand ansiedeln), Auswirkungen auf das körperliche Wohlbefinden zu haben. Wäre es da nicht konsequent, anzunehmen, dass unser Körper, namentlich der Bauch und das Herz, dabei helfen können, eine Entscheidung überhaupt zu treffen? Oder eine getroffene Entscheidung zu überprüfen? Setzen Sie Ihr Körperempfinden als Entscheidungsberater ein? Haben Sie es mal versucht?
Schwere Entscheidungen – man steht am Scheideweg
Und es geht noch weiter. Beim Bäcker und beim Friseur schaffen wir es in der Regel, relativ zeitnah zu entscheiden. Aber was ist in solchen Situationen?
- Die Berufswahl: Studium oder Ausbildung? Und was überhaupt?
- Die Familienplanung: Kein Kind, ein Kind oder mehrere Kinder?
- Die Partnerschaft: Hoffen oder Scheidung? Gehen oder bleiben?
- Die Karriere: Neuer Job in neuer Stadt? Oder lieber nicht?
- Berufliche Neuorientierung: Selbständig machen oder angestellt bleiben?
Das sind Entscheidungen eines Kalibers, die wir als weg-weisend bezeichnen würden. Man fühlt es regelrecht: Man steht an einem Scheideweg, die Schilder weisen nach rechts, links, geradeaus. Es liegt auf der Hand, warum wir uns für solche Entscheidungen Zeit nehmen sollten: Sie sind nicht ohne weiteres revisibel. Dies ist ein Grund, warum wir uns häufig scheuen, solche Entscheidungen zu fällen: „Wer weiß, ob ich sie ändern kann“.
Manche Entscheidungen sind sogar gar nicht revisibel: Wer sich einmal dazu entscheidet, Eltern zu werden, bleibt es ein ganzes Leben, unabhängig davon, wie die Elternschaft gelebt wird. In eine solche Kategorie fallen allerdings nur die wenigsten Entscheidungen. In den allermeisten Fällen kann man Entscheidungen ändern. Dies ist häufig nur nicht bewusst.
Um nochmals auf Kahneman zu verweisen: Wir befinden uns in der Rubrik „langsames Denken“. Wir treten, sozusagen, einen Schritt zurück, wir schauen uns regelrecht beim Denken zu. Wir wägen ab, wir reflektieren. Dies geschieht bewusst. „So weit, so gut“, werden Sie vielleicht sagen, „aber darum geht es ja nicht. Sondern darum, dass ich in der Reflexionsschleife stecken bleibe. Und das macht es mir so schwer. Und das führt dazu, dass ich sage: Ich kann mich nicht entscheiden.“
Nur entscheiden, wenn es die absolut richtige Entscheidung ist?
Viele Menschen, egal ob Unternehmer*innen, Entscheider*innen, Politiker*innen oder Privatmensch treffen Entscheidungen und überprüfen diese von Zeit zu Zeit, verwerfen sie, treffen eine neue. Und das ist gut so. Denn dies bedeutet, dass ihre Entscheidungen nicht „in Stein gemeißelt sind“, sondern kritisch reflektiert, begutachtet und ggfs. korrigiert werden. Und dies wiederum bedeutet nichts anderes als: Entwicklung.
Darüber hinaus: Wir treffen eine Entscheidung immer zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Situation. Im Nachhinein schauen wir auf diesen Zeitpunkt und diese Situation zurück und bewerten unsere Entscheidung. Hierbei können wir nicht ausblenden, was wir in der Zwischenzeit erfahren und gelernt haben. (Dies ist allerdings ein anderes Kapitel und wird in einem anderen Beitrag einmal näher beleuchtet: „Warum wir hinterher immer klüger sind“).
Dass man einmal getroffene Entscheidungen auch wieder ändern kann, ist für die Haderer*innen und Schlecht-Entscheider*innen häufig kein Trost. Sie haben den Anspruch, dass eine Entscheidung auch ganz sicher die beste ist. Und sie muss „ewig“ sein, schließlich möchte man nicht als „Fähnchen im Wind“ gelten. Man möchte auch auf gar keinen Fall Fehler machen. Man möchte sich nicht irgendwann eingestehen, dass man sich hätte anders entscheiden können/sollen/müssen.
Weil man aber nie sicher sein kann, die einzig richtige und wahre und ewig verbindliche Entscheidung getroffen zu haben, verliert man sich im Abwägen und Zögern.
Übertragen wir dies auf einige der oben genannten Situationen: Wenn ich mich zwischen unendlich vielen Studiengängen entscheiden kann, wenn mir die Welt der Ausbildungsplätze zu Füßen liegt, wenn mir suggeriert wird, dass Millionen von potenziellen Partnern im Internet nur darauf warten, mein Herz zu erobern, wenn ich zwischen Hamburg, Berlin, München und Köln Jobs wählen kann, kann es mir schwerfallen, mich zu entscheiden. Schließlich bedeutet eine Entscheidung FÜR etwas oder jemanden, dass ich mich zeitgleich GEGEN alles andere entscheide. Und wer weiß, vielleicht habe ich gerade falsch entschieden.
Es gibt kaum falsche Entscheidungen – nur überprüfbare.
Was die Frage aufwirft, wann eine Entscheidung „falsch“ ist. Ist die Entscheidung für das Schokomüsli der Marke X falsch, bloß weil es mir nicht schmeckt? Oder ist die Entscheidung für den Studiengang A falsch, bloß weil ich merke, dass es mir doch nicht so sehr liegt? Ist selbst die Entscheidung für einen Partner falsch, bloß weil wir nach ein paar Jahren merken, dass die Liebe Adieu gesagt hat?
Entlastet es Sie, wenn Sie hören: Entscheidungen können überprüft und verändert, revidiert, neu ausgerichtet werden. Und zwar, in den allermeisten Fällen. Oder hört sich das schrecklich an? Denken Sie jetzt: „Was, ich dachte, ich müsste mich nur einmal entscheiden und jetzt höre ich, ich soll das mehrfach machen und immer damit rechnen, dass ich aufs Neue entscheiden soll?“
Ja! Gehen Sie nochmal zurück und überlegen Sie. Es fällt Ihnen schwer, sich zu entscheiden, weil Sie nicht sicher sind, ob die Entscheidung die beste ist. Sie befürchten, sich falsch zu entscheiden. Wenn Sie allerdings die Option in Erwägung ziehen, dass es keine „falsche“ Entscheidung gibt, sondern eine überprüfbare und veränderbare, sollte Sie das entlasten.
Sie entscheiden – mal schnell, mal langsam
Entscheidungen werden getroffen. Auch Sie treffen täglich Entscheidungen. Wenn Sie von sich behaupten, „sich nie entscheiden zu können“, ist dies im Lichte des Autopiloten nicht zutreffend. Sie haben einen Autopiloten, Kahnemans System 1, in sich. Und dieser Autopilot läuft in den meisten Fällen sicher.
Grämen Sie sich nicht, wenn Sie sich – nach eigenem Empfinden – schwer entscheiden können. Was Sie als Hadern und Zögern empfinden, kann ein Hinweis darauf sein, dass Sie Ihr System 2 eingeschaltet haben. Sie wägen ab, eine gesunde Vorsicht ist aktiviert. Oder Ihr System 2 gibt Ihnen einen Hinweis, wenn eine Entscheidung nicht stimmig ist. Dann ist es an der Zeit, sie zu überprüfen und ggfs. zu revidieren. „Ich kann mich gar nicht entscheiden“ oder „Ich hadere mit meinen Entscheidungen“ ist eine Bewertung, die zu überprüfen ist. Entscheiden Sie sich dafür, Ihre Selbst-Bewertungen kritisch zu hinterfragen.
Wir alle tragen ihn in uns, eine Art Kompass, um in dem Meer der Möglichkeiten zu schwimmen oder durch den Nebel ans sichere Ziel zu gelangen. Nur häufig hören und sehen wir nicht hin. Dieser eigene Kompass hilft auch, in der scheinbaren Unendlichkeit der Möglichkeiten das zu erreichen, was man im Fachjargon eine „Reduktion der Komplexität“ nennt. Und sich zu entscheiden – mal schnell, mal langsam.









