Wenn nur alles anders wäre! – Vom Hadern mit anderen und sich selbst

Wenn nur alles anders wäre! – Vom Hadern mit anderen und sich selbst
Wären Sie lieber jemand anderes? Vielleicht nicht komplett anders, aber doch in bestimmten Aspekten? Gibt es Entscheidungen in Ihrem Leben, die Sie bereuen oder die Sie zumindest nicht zur Ruhe kommen lassen? Die Sie immer und immer wieder „durchkauen“? Ertappen Sie sich dabei, dass Sie denken: „Hätte ich doch bloß …!“ oder „Wenn ich mich damals anders entschieden hätte, …!“ oder auch: „Wenn nur (Person XY) sich anders verhalten würde, dann …!“
Vom Hadern – worum es in diesem Beitrag geht
Wir finden uns in Situationen wieder, die wir entweder gut oder schlecht finden, die wir herbeigeführt oder in die uns andere gebracht haben. Wir betrachten unsere Situation und ertappen uns dabei, dass wir denken: „Wenn doch nur … alles anders wäre.“
An dieser Stelle könnten wir bleiben. Wir könnten in dem „wenn doch nur …“-Tal verweilen und sehnsuchtsvoll den Blick in den Himmel heben. Wie schön wäre es doch, wenn das Tal nicht so tief, dunkel und eng wäre. Wenn wir doch nur ein Stück weit aus dem Tal den Berg hinauf gehen könnten. Es wäre so schön. Aber … Aber wir haben uns ja anders entschieden, irgendwann einmal. Oder andere haben so entschieden. Und deshalb bleiben wir in diesem Tal und hadern.
In diesem Beitrag geht es um das Hadern, und zwar genau darum, warum wir es tun und was es uns bringt. Und wie wir, wenn wir nicht mehr (so viel, so häufig) hadern wollen, etwas verändern können.
Worüber man hadert und hadern könnte
Sie hadern mit der Entscheidung, sich im Sportstudio angemeldet zu haben, weil Sie monatlich zahlen und doch nicht hingehen? Sie hadern mit Ihrem Gewicht und dem inneren Schweinehund, der sie lieber auf dem Sofa hält? Sie hadern mit Ihrer Frisur? All das ginge ja noch. Frisuren kann man ändern: Ein Besuch bei einem Friseur kann manchmal Wunder wirken. Den Sportstudiovertrag kann man kündigen oder man kann eine Freundin oder einen Freund animieren mitzumachen, den Schweinehund in die Wüste zu schicken. Aber was ist mit den großen Entscheidungen? Mit den Lebensweichenstellungen?
50 Jahre lang „hätte ich damals doch bloß …“
Ich kenne eine Frau, die hadert seit fast 50 Jahren damit, dass sie kein Abitur hat. Sie wäre so gerne auf eine „gute“ Schule gegangen, sie hätte so gerne studiert, sie wäre so gerne etwas Anderes geworden, sie hätte so gerne etwas Anderes in ihrem Leben erreicht. Und sie betont, dass sie „im Leben nie mehr heiraten würde“. Klingt nach ganz vielen Fehlern, falschen Abbiegungen, Fehlentscheidungen. Klingt nach Trauer, Wut und ganz viel Haderei.
Diese Frau hat statt des Abiturs einen einfachen Schulabschluss gemacht. Sie hat eine Ausbildung absolviert, hat gearbeitet, Geld verdient und sich selbständig gemacht. Sie hat geheiratet, ein Kind bekommen, sie besitzt ein Haus und fährt jedes Jahr mindestens einmal in Urlaub. Sie hat viele Hobbys und einen großen Freundeskreis und eine (wenn auch bescheidene) Rente.
Sie schaut häufig auf das, was hätte sein können. Und sie verbringt viel Zeit damit, wortreich zu erklären, warum es nicht so gekommen ist: Kein Gymnasium, weil die Eltern es nicht wollten und man kein Geld hatte; die Ausbildung gemacht, weil die Eltern es so wollten; die Heirat, weil der Mann es so wollte; … Es waren die Umstände und die anderen, die dazu geführt haben, dass sich diese Frau bis heute betrauert. Dass sie mit den vielen verpassten Chancen in ihrem Leben hadert.
Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn diese Frau eine andere Schulausbildung genossen hätte? Vielleicht. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn sie nicht geheiratet und kein Kind bekommen hätte? Vielleicht.
Sie werden sich eventuell fragen: „Wieso „nur“ vielleicht?“ und im Brustton der Überzeugung sagen: „Ganz bestimmt wäre das Leben dieser Frau anders verlaufen. Mit Abitur hätte sie doch einen anderen Beruf ergriffen, hätte mehr Geld verdient, hätte einen anderen Mann kennengelernt oder wäre unverheiratet geblieben, weil sie Karriere gemacht hätte. Ja genau, sie wäre eine erfolgreiche Führungsfrau in der Wirtschaft geworden, die viele Stunden gearbeitet und sehr viel Geld verdient hätte und die nun eine (sehr üppige) Rente verleben könnte. In einem großen Haus. Allein.“
Ja, das könnte so sein. Es spricht Einiges dafür, dass ein anderer Schulabschluss zu einem anderen Berufsweg führt. Es spricht Einiges dafür, dass es einen Unterschied macht, ob man als Single und kinderlos durchs Leben geht oder verheiratet und gesegnet mit Kindern und Enkelkindern ist.
Es könnte auch so sein, dass diese Frau, wäre sie unverheiratet und kinderlos, heute sagt: „Hätte ich doch mal damals diesen Mann geheiratet. Hätte ich doch Kinder bekommen. Ich bin einsam.“
Vom grünen Gras auf der anderen Seite
Wir alle haben Träume. Wir haben Vorstellungen, Hoffnungen, Sehnsüchte. Wir alle schauen mal nach links und rechts und sehen, wie die anderen es machen. Und denken manchmal: „Hätte ich das doch auch!“ Das geflügelte Wort vom „Gras, das auf der anderen Seite immer grüner ist“ kommt in den Sinn. Dabei ist dieses geflügelte Wort, so zitiert, ungenau. Ist das Gras auf der anderen Seite wirklich grüner? Oder ist es nur unsere Projektion, unser Wunschdenken, dass dieses Gras so verlockend grün erscheinen lässt? Stellen wir nicht häufig fest, dass das Gras auf dieser und auf jener Seite des Zauns in etwa gleich grün ist?
Wir sehen das Gras, auf dem wir stehen nicht (mehr). Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit auf die andere Seite, auf das, was sein könnte. Was wir gerne hätten. Und was bestimmt besser ist (sein muss!) als das, was wir haben. ‚Wenn ich doch nur auf der anderen Seite des Zauns wäre, dann …!‘ Machen wir uns an dieser Stelle doch mal ehrlich: Wie viel Zeit – schätzen Sie – vergeht, sobald Sie die Zaunseite gewechselt haben, bis Sie sich denken hören: „Wäre ich doch nur auf der anderen (der nächsten) Seite des Zaunes?“
Unzufrieden sein, beklagen, aufbegehren
„Hadern“, das Wort klingt schon anstrengend. Und alt. Tatsächlich entstammt es dem Mittelhochdeutschen und bedeutet „streiten, necken“. Hadern bedeutet, „(mit jemandem um etwas) streiten“ und „unzufrieden sein und sich deshalb beklagen und aufbegehren“ (Quelle: Duden).
Streiten, unzufrieden sein, beklagen, aufbegehren … Meist hadern wir, weil wir unzufrieden sind. Mit uns selbst, mit anderen, mit der Gesamtsituation. Wir sind nicht im Frieden, mit dem was ist. Das Gras ist eben doch auf der anderen Seite grüner. Wir wünschen uns, dass „etwas“ anders ist. Wir wünschen uns woanders hin, in eine andere Situation.
Das Gute am Hadern
Ein Gutes hat das Hadern: Es entlastet. So eine richtig gute Runde Klagen kann manchmal Wunder wirken. Ich habe dieses Phänomen in unzähligen Supervisionssitzungen erlebt – in Einzel- und in Teamsupervisionen. Es tut gut, mal all das rauszulassen, was man beklagenswert findet: Die blöden Entscheidungen von „oben“, viel zu viele Aufgaben, Zeitdruck, immense Erwartungen anderer.
All der Ärger, der Frust, das Gefühl von Ohnmacht, Hilflosigkeit … all das braucht Raum. Wenn man es ausspricht und sich andere anschließen, ist man nicht mehr allein mit diesen Gefühlen. Wenn zwei oder drei zusammen sind, kann aus dem Hadern und Klagen schnell eine Gewissheit werden: Das ist halt so. Aber es tut gut, darüber zu reden. „Kollektive Psychohygiene“ nennen das einige.
Die Entlastung wirkt scheinbar befreiend. Und sie hat noch einen weiteren, ganz wundervollen Nebeneffekt: Die Situation, in der man sich befindet, ist ja nur deshalb so beklagenswert, weil „die Umstände“ oder „die anderen“ so sind. So werden Verantwortlichkeiten geklärt.
Ich hadere mit meiner Lebenssituation oder meiner beruflichen Situation, weil ich zwar gerne etwas Anderes hätte, aber mir nicht vorstellen kann, wie ich dies erreichen kann. Also hadere ich, um meine Scham über meine scheinbare Machtlosigkeit, meine Trauer über mein Festgehaltenwerden, meine Hilflosigkeit über meine scheinbare Unfähigkeit zu kanalisieren. So geht individuelle Psychohygiene.
Der Teufelskreis des Haderns
Das Leben beschert uns nicht immer das, was wir uns wünschen. Es gibt Entwicklungen, die sind, wie sie sind. Und die ändern sich nicht, wenn ich mich ihrer schäme, sie verfluche, sie verwünsche, sie verleugne, sie anders träume. Auch wenn ich noch so laut klage und hadere. Die Entwicklung ist da, die Situation ist, wie sie ist, Menschen sind wie sie sind.
Je mehr ich hadere, umso mehr verliere ich etwas aus den Augen: Die Akzeptanz für das, was nicht (mehr) zu ändern ist. Ich stecke Energie in Gedankenspiele, die nicht mein Leben abbilden. Ich lasse mich von Gedanken verleiten und herunterziehen, die mir eines verwehren: den unverstellten Blick auf die Realität.
Und so beginnt ein Teufelskreis, der sich zunehmend in negativer Weise verstärkt: Ich bedauere meine Situation, ich beklage frühere Entscheidungen, ich bemitleide mich. Je mehr ich hadere, umso weniger nehme ich wahr. Ich schaue nur auf das, was hätte sein können oder was so sein sollte. Und beklage erneut, dass es nicht so ist. Und vielleicht nie so sein wird.
Was hätte die Frau alles Wunderbares wahrnehmen können in jenen 50 Jahren: Ihren Schulabschluss trotz widrigster Verhältnisse seinerzeit, ihre Ausbildung, ihren Mut, sich selbständig zu machen, ihren treuen Mann, ihre große, liebevoll-verrückte Familie. Zu sehen, was erreicht worden ist, anstatt sich zu fragen, was hätte sein können.
Ändere, was du ändern kannst – oder lass es sein
Ich habe diese Frau einmal gefragt (als sie zum wiederholten Male mit einem Seufzen erklärte, dass sie auch soooo gerne Abitur gemacht hätte): „Warum machen Sie es nicht? Warum besuchen Sie keine Abendschule und holen das nach? Wenn es offenbar so wichtig ist …“ Die Frau schaute mich fragend an: „Aber … jetzt bin ich doch schon so alt.“ „Man ist nie zu alt. Wenn es so wichtig ist, Abitur zu haben, dann machen Sie es.“ Die Frau hat das Abitur nie gemacht. Wahrscheinlich hat sie abgewogen: „Soll ich ernsthaft nochmals die Schulbank drücken? Ich müsste viel lernen. Am Ende könnte ich erfolgreich das Abitur bestehen. Aber, was ist, wenn ich scheitere?“
Und auch darum geht es beim Hadern: Neben den Traum von dem, was hätte sein können, gesellt sich häufig die Angst vor dem Scheitern. Oder auch die Sorge, dass man am Ende feststellen könnte: „So dolle ist es dann doch nicht, das Gras ist ja doch nicht grüner als auf meiner Seite“. Dann lieber hadern, dass etwas nicht so ist. Dies bewahrt vor Enttäuschungen, vor (möglicherweise vergeblichen) Anstrengungen, enthebt uns von der Verantwortung, etwas zu tun und lenkt unsere Angst vor dem Scheitern ab.
Manchmal hadern wir, weil wir die Realität, wie sie ist, nicht akzeptieren wollen. Das kann – in kleinen Dosen – hilfreich sein, um sich psychisch zu entlasten. „In kleinen Dosen“ meint: Es tut gut, Ärger und Frust mal rauszulassen. Es meint nicht: Ärger und Frust zum Lebensinhalt zu machen. Auf diese Weise wird man höchstens zum Opfer seiner selbst.
Manchmal hadern wir, weil wir Angst haben, zu scheitern. Weil wir befürchten, dass das, was wir schmerzvoll herbeisehnen und was mit Anstrengung verbunden wäre, nicht zu erreichen ist. Dann sitzen wir lieber zu Hause, träumen uns in ein anderes Leben und hadern mit dem, was wir haben. Träumen ist schön und gut. Wer träumt nicht davon, eine respektierte Führungskraft zu sein, ein bejubelter Autor, eine großartige Sängerin, … Wer träumt in einem Team nicht davon, dass die Arbeit untereinander gerecht verteilt ist, dass alle an einem Strang ziehen und die Führungsebene alles daran setzt, um die Rahmenbedingungen für die Arbeit bestens zu gestalten. Man darf träumen und man darf (und sollte auch) benennen, wenn es eine Abweichung zwischen Wunsch und Realität gibt. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, wer hier „den Hut aufhat“ bei der Wunscherfüllung: „die anderen“ oder auch ich?
Es gibt Dinge, die ich verändern kann. Ich kann mich entscheiden, auch im hohen Alter, einen Schulabschluss nachzuholen und sogar zu studieren. Ich kann mich entscheiden, meinen Job zu wechseln, wenn meine berufliche Situation offenbar nur noch Anlass zum Hadern und Klagen gibt. Ich kann mich allerdings auch entscheiden, dies nicht zu tun.
Es gibt Dinge, die ich nicht verändern kann. Ich habe keinen Einfluss darauf, wie andere Menschen auf die Welt blicken. Ich habe zu akzeptieren, dass bestimmte Entscheidungen auf anderen Ebenen getroffen werden.
Wenn ich hadere, sollte ich hinsehen, womit ich hadere. Und dann sollte ich entscheiden. In einem Fall zu akzeptieren und im anderen Fall zu handeln. Wenn ich beides nicht tue, dann habe ich offenbar noch nicht genug gehadert. Oder ich hadere um des Haderns willen.










