Wir alle spielen eine Rolle – meist mehrere

Wir alle spielen eine Rolle – meist mehrere
Wir alle spielen eine Rolle. Genau genommen, haben wir mehrere Rollen inne, und zwar gleichzeitig. In der Regel können wir uns gut in die jeweiligen Rollen einfinden und „spielen“ diese adäquat. Doch es gibt Situationen, die Fragen aufwerfen. Wir sind nicht sicher, ob das, was wir tun und wie wir uns verhalten Inhalt der Rolle ist, die uns zugedacht wurde und die wir eingenommen haben. Häufig wird die Frage: „Was ist meine Aufgabe?“ verbunden mit der Frage: „Was ist meine Rolle?“ Beides hängt im beruflichen Kontext zwar zusammen, dennoch ist eine Rolle, die ein Mensch einnimmt, etwas Anderes als die Aufgaben, die zugeteilt und ausgeführt werden.
Worum es in diesem Beitrag geht
In diesem Beitrag stelle ich – in hoffentlich gebotener Kürze - den theoretischen Hintergrund unserer Rollen dar. Sie erfahren, welche Kriterien herangezogen werden, um Rollen zu beschreiben. Dies sind zeitgleich auch die Kriterien, anhand derer Rollenverhalten beobachtet und bewertet wird. Es sind Grundlagen, die zur Klarheit bezüglich der eigenen Rolle führen sollen.
Zur Führungsrolle im Speziellen lesen Sie den Beitrag: „Führungsrolle: Warum Rollenklarheit wichtig ist“. Und wenn Sie mehr über Rollenkonflikte lesen möchte, lesen Sie den Beitrag: „Wenn die Rolle zu Konflikten führt“.
Rolle – Annäherung an den Begriff
Warum verhalten sich Menschen (Individuen) in einigen Situationen so und in anderen anders? Was prägt das Verhalten von Menschen und welche Umstände führen dazu, dass Menschen ihr Verhalten verändern? Diesen Fragen gehen Forscher*innen seit dem 19. Jahrhundert nach. Sie wollten herausfinden, wie sich Menschen im Spannungsfeld zwischen „Individuum“ einerseits und „als Teil einer Gemeinschaft“ andererseits verhalten.
Auf Georg Herbert Mead wird die nachhaltige Implementierung des Konzepts der sozialen Rolle zurückgeführt. In dem grundlegenden Werk „Mind, Self and Society“ legt Mead dar, dass Individuen nur dann kooperatives soziales Handeln lernen können, wenn sie in der Lage sind, sich in die Rolle einer anderen Person hineinzuversetzen.
Ralf Dahrendorf führte das Konzept der Rolle (Rollentheorie) 1958 mit seinem Werk „homo sociologicus“ in die deutsche Soziologie ein. Die Rollentheorie beschreibt und erklärt die Erwartungen, die an Rollen geknüpft sind, sowie die Festlegungen, die es innerhalb von Rollen gibt. Darüber hinaus wird in der Rollentheorie beschrieben, welche Handlungsspielräume dem Individuum und sozialen Gruppen innerhalb einer Rolle offenstehen. Sie beschäftigt sich damit, wie Rollen erlernt, verinnerlicht, modifiziert und verändert werden.
Rollen über Rollen
Als soziale Akteur*innen handeln wir in unterschiedlichen sozialen Kontexten: Als Teil einer Familie, als Mitglied in einem Freundeskreis, als Bürger*in eines Staates, als Teil der Gesellschaft, als Mitglied in einer Organisation. Rollen haben somit etwas mit dem sozialen Kontext zu tun, in dem wir uns befinden.
Diese Rollenvielfalt begleitet uns - immer. Um dies zu verdeutlichen: Sie sind bspw. Ehemann, Sohn, Bruder, Vater, Onkel, Neffe, Vorstandsvorsitzender eines Tennisclubs, Marathonläufer, Ehrenamtlicher in einer lokalen Initiative, begeisterter Bücherleser … Darüber hinaus sind Sie Abteilungsleiter in einem mittelständischen Unternehmen oder Referatsleiter in einer Landesverwaltung. Legen Sie Ihre „privaten“ Rollen komplett ad acta, wenn Sie morgens durch die Türen des Unternehmens treten, um an Ihren Arbeitsplatz zu gehen? Gibt es dort eine Art „Umkleideraum“ im Eingangsbereich, in welchem Sie sich Ihrer „privaten“ Rollen entledigen und die „berufliche“ Rolle anziehen und am Abend ausziehen? Haben Sie einen solchen „Umkleideraum“ zu Hause (vielleicht hätten Sie einen solchen manchmal gerne)? – Ich schätze, die Antwort lautet: „Nein.“ Sie bleiben in Ihren mannigfaltigen Rollen, Sie nehmen diese in andere soziale Kontexte mit. Dort treten zwar manche Rollen – für eine begrenzte Zeit – in den Hintergrund, dennoch haben Sie diese Rollen weiterhin inne.
Dies gilt für jeden Menschen und ist an dieser Stelle ein erster wichtiger Hinweis auf die Frage nach der Rollenklarheit: Wir alle nehmen verschiedene Rollen in unterschiedlichen sozialen Kontexten ein, gleichzeitig. Dieser Umstand sollte bewusst sein - in Bezug auf die eigene Person und in Bezug auf die Menschen, denen man im beruflichen Kontext begegnet.
Arten von Rollen
Wir nehmen Rollen ein, die kulturell geprägt sind. Solche Rollen werden innerhalb einer Kultur als selbstverständlich erachtet, meist werden sie erst durch eine genaue Betrachtung und Untersuchung bzw. durch Veränderung bewusst (z.B. die kulturellen Rollen „männlich“/ „weiblich“ und die diesen Rollen zugeschriebenen Rechte und Pflichten verändern sich stetig). Es wird unterschieden in situationsbezogene Rollen und Geschlechterrollen. Der Schwerpunkt in der Soziologie liegt auf der Betrachtung von Rollen durch soziale Differenzierung. Und an dieser Stelle werden die Berufsrollen verortet.
Gefragt nach unseren Rollen, benennen wir diese durch formale Bezeichnungen: „Ich bin Mutter (oder Vater).“ „Ich bin Mitglied im Verein XY (aktives/ passives/ Vorstandsmitglied).“ „Ich bin Abteilungsleiter/Abteilungsleiterin im ABC-Unternehmen.“ Somit können wir (genau und vollständig) sagen, welche Rollen wir formal (formelle Rollen) bekleiden. Doch wie agieren wir in diesen Rollen? Was führt dazu, dass wir uns in diesen Rollen verhalten bzw. unser Verhalten verändern? Dies hat wiederum etwas „mit den anderen“ zu tun.
Neben formellen Rollen gibt es auch informelle Rollen. Man könnte auch sagen: In jeder formalen Rolle stecken – individuell und systembedingt – weitere Aspekte, die nicht formal beschrieben werden. Ein Beispiel: In Ihrem Team arbeiten fünf Mitarbeitende, die die gleiche formale Bezeichnung haben, z.B. Sachbearbeiter*innen. Frau X ist morgens immer diejenige, die Kaffee kocht, die regelmäßig Kuchen mitbringt und die sich stark macht für private Treffen im Kollegenkreis. Herr Y ist jede Form von Unpünktlichkeit ein Dorn im Auge, er hält sich penibel an die Arbeitszeiten und vereinbarte Fristen. Herr Z ist jederzeit ansprechbar, wenn es um irgendwas mit IT geht. Anderen hierbei zu helfen, ist ihm stets eine Freude. Frau A hat jeden Tag etwas Neues, selten etwas Gutes zu berichten: Immer ist irgendwas, nie funktioniert etwas so, wie Frau A es gerne hätte. Sie hat ein offenes Ohr für alle, denen es so (schlecht) geht wie ihr. Und Frau B? Sie ist erst seit Kurzem Teil des Teams, still und in sich gekehrt arbeitet sie vor sich hin. Wenn Sie nicht wüssten, dass fünf Personen laut Stellenplan in Ihrem Team arbeiten, würden Sie und andere Frau B manchmal schlicht und ergreifend vergessen.
Nach dieser Beschreibung (die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt), wird bereits deutlich: In diesem Team arbeiten fünf Sachbearbeiter*innen, die – dies unterstellen wir in diesem Beispiel – die gleichen Aufgaben erfüllen. Die Tätigkeiten, die sie zugewiesen erhalten haben, sind exakt identisch. Dennoch nehmen sie im Gefüge des Teams unterschiedliche informelle Rollen ein. Auch solche können „formal“ bezeichnet werden, z.B. kann Frau X als „die Kümmerin“ oder die „Mutter des Teams“ bezeichnet werden. Frau A erhält eventuell die Bezeichnung „Klagemauer“ und Herr Y ist der „Pedant und Erbsenzähler“ oder „Wächter der Strukturen“. Herr Z ist der „Nerd“ und „Helfer“, während Frau B als eine Art „Geist“ durch das Team schwebt.
Auch in Bezug auf die Führungsrolle gibt es – neben dem formalen Aspekt – informelle Rollenaspekte. Sozusagen als „Rollen in der Rolle“. Wenn Sie als Führungskraft auf Ihr Team schauen, sollten Sie sich darüber bewusst sein, dass Ihr Team – neben den formalen Rollen und den zugewiesenen Aufgaben – informelle Rollen einnimmt.
Erwartungen, Regeln, Sanktionen
Unser Rollenverhalten bzw. -handeln wird beeinflusst durch drei Aspekte:
- Erwartungen: Jeder Mensch hat Erwartungen und Ansprüche an sich selbst. Diese Erwartungen (geprägt durch Erfahrungen, Sozialisation, Vorbilder, Werten, etc.) prägen unser Rollenverhalten. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite treffen wir auf die Erwartungen der anderen, die an den Inhaber oder die Inhaberin der Rolle gestellt werden. Dies sind die Erwartungen der entsprechenden sozialen Bezugsgruppe (z.B. Erwartungen der Teammitglieder gegenüber der Teamleitung oder der Mitarbeitenden einer Abteilung gegenüber der Abteilungsleitung sowie die Erwartungen der Vorgesetzten einer Führungskraft und Erwartungen weiterer Akteur*innen, z.B. Kolleg*innen derselben Hierarchiestufe oder Kund*innen).
- Normen: Dies sind Regeln, die eine Rolle determinieren. Unter Normen versteht man explizite Normen (z.B. Gesetze) und implizite Normen (z.B. Verhaltensregeln, kulturell gewachsene Regeln in einer Organisation). Die expliziten Normen sind niedergeschrieben (kodifiziert) und in der Regel allen Beteiligten klar (sofern es keine Lücken oder Unklarheiten gibt, die Raum für unterschiedliche Auslegungen eröffnen). Implizite Normen sind nicht so einfach zu erkennen: Es sind die ungeschriebenen, häufig sogar unausgesprochenen, Regeln, die innerhalb einer Organisation gelten. Man könnte sie beschreiben als „do’s“ und „don’ts“ in einer Organisation.
- Sanktionen: Sowohl positive Sanktionen (z.B. Lob, Dank, Verstärkung) als auch negative Sanktionen (z.B. Kritik, Rüge, Ausgrenzung) beeinflussen das Rollenhandeln. Wir reagieren schnell auf das Verhalten anderer: Wenn Erwartungen erfüllt und Normen eingehalten werden, folgen positive Sanktionen. Diese können explizit ausgesprochen oder implizit vermittelt werden (z.B. durch das Ausbleiben von Kritik – sozusagen ein „stummes, wohlwollenden Zur-Kenntnisnehmen“). Negative Sanktionen erfahren wir auch (und verteilen diese an andere): durch offenes Ansprechen oder das Umsetzen angedrohter Konsequenzen. Häufig sind allerdings auch negative Sanktionen nicht offen erkennbar, so z.B., wenn der Flurfunk genutzt wird (und nicht das offene Gespräch), wenn Personen gemieden werden, wenn man auf eine „Mauer des Schweigens“ trifft.
Wir orientieren unser Verhalten bewusst und/oder unbewusst sowie offen oder verborgen an diesen Aspekten. D.h., wir versuchen zu erkennen oder zu erahnen, welche Erwartungen andere an uns stellen und welche impliziten Regeln in dem jeweiligen sozialen Kontext herrschen. Nicht selten gilt: trial and error. Verhalten wir uns erwartungsgemäß und innerhalb der Leitplanken der Normen, erhalten wir eine positive Reaktion und wiederholen oder verstärken das Verhalten.
Im Hinblick auf andere Personen dienen uns diese Aspekte als „Messlatte“ für deren Rollenverhalten: Wir beobachten deren Verhalten und gleichen es mit unseren Erwartungen ab. So bewerten wir andere, ob diese sich „rollengemäß“ (bzw. erwartungsgemäß) verhalten oder ob wir diese als „aus der Rolle gefallen“ bewerten und entsprechend sanktionieren.
Quellen und weiterführende Literatur:
Georg Herbert Mead (1863 – 1931, US-amerikanischer Philosoph, Soziologe und Psychologe): Mind, Self and Society: The definitve edition. Herausgeber: University of Chicago Press, 2015 (Erscheinungsjahr ursprünglich: 1934)
Ralf Dahrendorf (1929 – 2009, deutsch-britischer Soziologe, Publizist und Politiker): Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 16. Auflage (1. Auflage 1958). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006










